Poesie und Prankenschlag
Karlsruher CD-Produktionen (74): Amy Lin am Klavier
In Karlsruhe ansässig, setzt das Label ABW Classics (abgeleitet von Elsass/Alsace und Baden-Württemberg)
auf den musikalischen Brückenschlag am
Oberrhein. So befinden sich in seinem Repertoire diverse Aufnahmen mit der Pianistin Amy Lin, die aus Taiwan
stammt, vor 30 Jahren in die
USA emigrierte und inzwischen als Professorin für Klavier am Conservatoire National in Straßburg lehrt. In Gaggenau hat sie Klaviermusik von
Robert Schumann und Claude Debussy aufgenommen
. In
der Vita der eindrucksvollen
Tastenpoetin taucht ein signifikanter Name auf: Leon Fleisher,
der große amerikanische Pianist,
war zehn Jahre lang ihr Lehrer, und tatsächlich erinnert ihr Spiel in seiner
geschliffenen Eleganz und Klarheit
an den markanten Stil des berühmten
Virtuosen. Im Übrigen hat Amy Lin sich
auch bei anderen Größen der Zunft ihren pianistischen Schliff geholt, so bei Gerhard Oppitz in München. Solch vorzügliche Referenzen
deuten schon auf eine durch und
durch solide pianistische Ausbildung,
die ihre jüngste Auswahl denn auch
zu einem feinen Hörvergnügen machen. Vom
Duft und von der Klarheit ihres Anschlags profitiert vor allem die
Musik Debussys, zunächst die beschauliche
Suite bergamasque mit dem zart getönten, einem musikalischen Aquarell gleichenden „Clair de lune", dann der brillante Dreiteiler „Pour le Piano", bei
dessen Akkordtürmen und Glissandi
Amy Lin mitunter selbstbewussten Prankenschlag spüren lässt. Dieser
fein abgeschmeckte, bisweilen einem
zarten Schleier gleichende Klavierklang wirkt allerdings bei Robert Schumanns g-moll-Sonate op. 22
gelegentlich allzu leicht und flüssig,
womit die leidenschaftliche Bravour,
die unter der poetischen
Oberfläche dieser Musik glüht und brodelt, ein wenig zu kurz kommt. Doch bewegen sich Einwände dieser Art
auf hohem pianistischem Niveau, mit dem Amy
Lin gerade den entzückenden Zyklus der Kinderszenen op. 15 von Schumann adelt: Hier paaren sich grazile Anschlagskunst und sublimer
Ausdruck zu einem Klavierspiel höchster Reife.
Ulrich Hartmann
Badische
Neueste Nachrichten 19.08.2006
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